Informationen zu einzelnen Berufskrankheiten

BK 1317
Schlagwörter:
Berufskrankheit; Berufskrankheitenverfahren; Lösemittel
Titel:
Berufskrankheit Lösemittel - Betroffene erreichen wichtigen Teilerfolg
Abstract:
Erst nach langen Auseinandersetzungen wurde 1997 in Deutschland unter der Ziffer 1317 die
Berufskrankheit (BK) durch Lösemittelgemische anerkannt. Das vom Ärztlichen Sachverständigenrat dazu verfasste Merkblatt besagte, dass nach Beendigung der Exposition die durch Lösemittelgemische verursachten Schäden des Nervensystems und Gehirns (Polyneuropathien und Enzephalopathien) sich bessern oder
ganz verschwinden. Ein Andauern oder gar eine Verschlimmerung der Schäden könne nicht durch
Lösemittel hervorgerufen sein. Dies führte dazu, dass die Anerkennungsquote für die BK 1317 bei nur
4,6 % liegt. Auf Grund wachsender Kritik aus Wissenschaft und aus der Gesetzgebung wurde das Merkblatt überarbeitet und im März 2005 im
Bundesarbeitsblatt offiziell veröffentlicht. Nun wird ausdrücklich eingeräumt, dass ein Fortbestehen oder eine Verschlechterung der Polyneuropathien oder Enzephalopathien nach Expositionsende durch Lösemittel verursacht sein kann. Auf der Grundlage des neuen Merkblatts stellte der HVBG in Aussicht, die bisher (unter Hinweis auf das alte Merkblatt) abgelehnten Zweifelsfälle zu neu prüfen. Auch das neu
gefasste Merkblatt enthält als mögliche Verursacher nur die bereits im alten Merkblatt aufgeführten 15 Lösemittel. Andere Gesundheitsschäden als Polyneuropathien und Enzephalopathien wie z.B. Parkinson, epileptische Anfälle oder halluzinatorische Psychosen fallen weiterhin nicht unter den Geltungsbereich der BK 1317 und werden somit nicht als BK anerkannt. Beim HVBG sollte eine Konsenskonferenz eingerichtet werden, um Schwierigkeiten bei der Begutachtung zu erörtern und zu lösen.
Verfasser:
Leittretter, S.
Quelle:
Zeitschriftenaufsatz: Gute Arbeit; Band 17; (2005) Heft 4, S. 5-7 (2 Abb., 5 Lit.)
Sprache:
Deutsch
Der heutige (2010) Stand stellt sich anders dar:

Mit Urteil vom 27. Juni 2006 - Az.: B 2 U 5/05 R - hat das Bundessozialgericht das ärztliche Merkblatt der BReg von 2005 höchstrichterlich anerkannt (so auch die LSG Schleswig-Holstein 2006 und Hessen 2007).

Mit Urteil vom 9. Oktober 2006 Az.: L 8 U 19/01 hat z.B. das LSG Schleswig Holstein entschieden:
"Dass sich das genaue Ausmaß der Belastung heute nicht mehr feststellen lässt, schließt die
Anerkennung der Enzephalopathie als Berufskrankheit nicht von vorneherein aus,
da die BK Nr. 1317 im Tatbestand zu ihrer Anerkennung keine konkrete Belastungsdosis voraussetzt.
Auch gibt es keinen dementsprechenden medizinisch wissenschaftlichen Konsens (Verweis hier auch auf das Urteil des LSG vom 20. Februar 2006 - L 8 U 49/04)"

Noch eingehender das LSG Hessen in seinem Urteil vom 6. Juli 2007 - Az.: L 7 U 8/06

"Weder im Amtlichen Merkblatt (..) noch in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur
(...) noch in der Rechtsprechung sind Schwellen- oder Grenzwerte für eine Mindestexposition postuliert. Die im BK-Report 3/99 (hrsg. vom HVBG) vorgeschlagenen Schwellenwerte sind nicht in das im März 2005 neu veröffentlichte Amtliche Merkblatt (..) übernommen worden."

Hiernach ist es falsch, wenn behauptet wird,

1. es gebe eine neurotoxische Wirkungsrangfolge verschiedener Lösemittel
2. nur die Metaboliten bestimmter Lösemittel schädigten den axonalen Transport (!) und könnten eine PNP verursachen.
3. Es könnten nur bestimmte Mindestmengen bestimmter Mittel schädlich wirken.

Hierüber gibt es schlechterdings keine Erkenntnisse, weil Mischungen aus verschiedenen Einzelstoffen nicht untersuchbar und auswertbar sind.

"Die eigentliche schädigende Wirkung neurotoxischer Lösungsmittel mit dem Endergebnis
einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie beruht auf ihrer Biotransformation zu neuroto-xischen Metaboliten." (vgl. äMB zu BK 1317)

Im äMB wird weiter betont, dass bislang die Angriffspunkte der neurotoxischen Metaboliten an und in der Nervenzelle a) unterschiedlich und b) z.T. noch nicht geklärt seien.
Dass sie aber neurotoxisch schädigend wirken, ist als wissenschaftliche Tatsache zur Rechtstatsache erstarkt.

Die BK 1317 als Anlage zur Berufskrankheitenverordnung greift gesetzlich gerade die neurotoxische Gesamtwirkung von Mischungen auf den (Klein-und Groß-) Nerven und auf das Gehirn auf, weil erkannt worden ist, dass es eben gerade die Mixturen aus verschiedenen Einwirkungen lösemittelhaltiger Substanzen sind, die die BK verursachen.

Aus diesem Grunde wird die BK 1317 auch als äußerst gefährlich für die Ressourcen der DGUV betrachtet, weil vor dieser Erkenntnis die Ablehnungsmethode nach dem Dosis-Wirkungsprinzip nicht gut funktioniert.

In zentralen Aussagen seines Anfang 2007 erschienen „Berufskrankheiten-Report zur BK-Ziffer 1317“ setzt sich der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) - er nennt sich heute Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) - bewusst in Gegensatz zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und wehrt sich gegen den Willen des Gesetzgebers, Polyneuropathien oder Enzephalopathien (Demenzformen) durch organische Lösemittel oder deren Gemische unter den Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) zu stellen, indem er ihm nahe stehende Arbeitsmediziner, Neurologen, Psychologen und Biologen in diesem BK-Report einen angeblich anderen, neueren Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis verkünden lässt.

Prof. Dr. med. Th. Grobe, Nürnberg, Neurologe und Sozialmediziner
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Ch. Lang, Erlangen, Neurologe und Psychologe
Priv. Doz. Dr. med. A. Muttray, Mainz, Arbeitsmediziner und Internist
Prof. Dr. med. A. Rettenmeier, Essen, Hygieniker, Toxikologe
Prof. Dr. rer. nat. A. Seeber, Psychologe Prof. Dr. med. M. Tegenthoff, Bochum, Neurologe,
Schmerztherapie
Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. G. Triebig, Heidelberg, Arbeitsmediziner

Fragwürdig wird im Anbetracht dieser Entwicklung, wem die Rechtssetzungskompetenz zusteht, um erkannte Wissenschaftstatsachen in geltendes Verwaltungsrecht bzw. in Gesetze und Urteile zu gießen:

Ist es die Unfallversicherung, oder ist es das Parlament, die Bundesregierung und deren Ministerien mit Verwaltungsvorschriften, letztlich die Rechtsprechung des BSG ?

Wenn die Unfallversicherung die Umsetzung höchstrichterlicher Entscheidungen blockiert und unterläuft, zeugt dies jedenfalls nicht von großem Respekt gegenüber dem Gesetzgeber und gegenüber dem zuständigen Gerichtszweig.

Wie verloren muss sich doch da erst ein Betroffener fühlen, wenn er erkennt, dass seine „Versicherung“ die ihn betreffenden Regeln selbst aufstellt und die Rechtsprechung und eine gesetzliche Berufskrankheit außer Betrieb stellt ?